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FH-Forscher „bändigen“ die Inkontinenz

Institut für Bioengineering entwickelt Schlingensystem gegen weibliche Belastungsinkontinenz

Ein kurzes Lachen, Niesen oder Husten – und schon ist es passiert: Inkontinenz ist vielen Frauen nicht nur peinlich, sondern kann im Alltag zur echten Belastung werden. Ursachen für weibliche Belastungsinkontinenz sind Organverschiebungen im Beckenboden, meist bedingt durch eine vaginale Geburt, durch die Wechseljahre oder altersbedingte Gewebeschwächen. Am Institut für Bioengineering (IfB) forschen Prof. Dr. Manfred Staat und sein Team nun an einer Möglichkeit, um das Problem im wörtlichen Sinne zu „bändigen“: Mit Schlingen aus Textil können die Organe in ihre anatomisch korrekte Position gehoben und fixiert werden.

Ein solches Schlingensystem besteht aus einem Netz und zwei Ankern, die aus dem besonders verträglichen textilen Material Polyvinylidenfluorid (PVDF) gefertigt sind. Durch einen minimalinvasiven chirurgischen Eingriff wird das Schlingensystem eingesetzt und hebt Organe wie Blase und Harnleiter zurück in ihre natürliche Position. Der Druck auf die Blase lässt nach.

„Unsere Aufgabe ist es, diesen Vorgang exakt zu simulieren“, erklärt Prof. Staat. Welche Varianten gibt es, das Schlingensystem in der komplexen anatomischen Umgebung des weiblichen Beckenbodens zu platzieren? Wie straff müssen die textilen Bänder gespannt sein, um die Organe zu halten, ohne das weiche Gewebe zu verletzen oder gar zu durchschneiden? Kurz gefragt: Wie können Form, Größe und Mechanik des Schlingensystems optimiert werden?

Medizintechnische Grundlagenforschung am IfB

In Zugexperimenten ersetzen die FH-Forscher die weichen Gewebe dafür durch ballistische Gelatine, in der sie die Schlingensysteme unter anderem spannungsoptisch untersuchen. Die Ergebnisse der Experimente ermöglichen dann Finite-Elemente-Analysen, mit denen der weibliche Beckenboden bis ins Detail visualisiert und der Eingriff in allen Varianten simuliert wird. „Die letztendlich entwickelten Simulationsmodelle können hervorragend zur Schulung von Ärzten genutzt werden, die den Eingriff bei ihren Patientinnen durchführen“, betont Prof. Staat. „Dadurch wird die Methode noch sicherer und erfolgreicher.“ Und daher auch der Name des Projekts: Bingo.

Im Rahmen der Förderlinie FHprofUnt unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung das zum Januar 2013 gestartete Projekt. Dabei arbeitet das Institut für Bioengineering eng mit dem Aachener Unternehmen FEG Textiltechnik zusammen, das die medizintechnischen Textilien für das Schlingensystem fertigt. Weitere Kooperationspartner sind die Medizinische Universität Wien, das Klinikum der RWTH Aachen sowie das Universitätsklinikum Bonn. „Die Idee, medizintechnische Grundlagenforschung zur Schlingenmethode zu betreiben, geht zurück auf ein Forschungsprojekt zu textilen Mini-Schlingen“, erinnert sich Prof. Staat. „Dieses Vorläuferprojekt haben wir von 2011 bis 2012 ebenfalls gemeinsam mit der Firma FEG und dem Klinikum der RWTH Aachen durchgeführt.“ Schon hier zeigte das Bundesministerium Interesse und nahm das Projekt in die Förderlinie ZIM (Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand) auf.

Zwei interdisziplinäre Doktorarbeiten

„Besonders freut es mich, dass zwei Doktoranden im Rahmen des Projekts als wissenschaftliche Mitarbeiter tätig sind und ihre Dissertation schreiben“, betont Prof. Staat. Es sind ein Technomathematiker und ein Absolvent des Masters of Computational Engineering, die mit großer Begeisterung auf dem Gebiet der Medizintechnik forschen: Ralf Frotscher ist seit 2005 an der FH Aachen. Er kam extra aus Halle an der Saale, um den dualen Studiengang Scientific Programming zu absolvieren und schloss dann den Master Technomathematik an. Der 26-Jährige hat im Projekt die Aufgabe, mit Hilfe von Finite-Elemente-Analysen Schalenmodelle zu entwickeln. „Mathematische Modelle sind seit dem ersten Studientag meine Leidenschaft“, erzählt der frischgebackene Vater einer kleinen Tochter. „Mit ihnen lassen sich reale Sachverhalte modellieren, berechnen und simulieren.“

„Die Herausforderung ist“, so Frotscher weiter, „dass man einerseits den Sachverhalt vereinfachen muss, damit er handhabbar ist. Andererseits wollen wir verlässliche und korrekte Vorhersagen liefern. Diese sehr analytische Betrachtung von komplexen realen Sachverhalten ist einfach spannend.“ Ein Technomathematiker, ergänzt Frotscher noch, finde in der Medizintechnik einen Anwendungsbereich mit riesigem Potential.

Auch der zweite Doktorand und wissenschaftliche Mitarbeiter, Aroj Bhattarai, ist dem hervorragenden Ruf des Fachbereichs Medizintechnik und Technomathematik der FH Aachen gefolgt: Der gebürtige Nepalese erforscht die Materialgesetze, die Grundlage für die Simulation sind, und erfasst Volumenmodelle der betreffenden Organe.  » Siehe Portrait im März-Newsletter, Seite 9