Details

Ein historischer Moment

Prof. Dr. Vytautas Landsbergis und Hans-Dietrich Genscher diskutieren an der FH Aachen

Es war ein historischer Moment, als Vytautas Landsbergis und Hans-Dietrich Genscher sich 1991 erstmals begegneten: Das Parlamentsgebäude in Vilnius war noch von Wällen aus Sandsäcken umgeben, die die Unabhängigkeit der jungen Republik Litauen gegen sowjetische Panzer verteidigen sollten. „Es war das einzige Mal, dass ich ein Staatsoberhaupt in einem Amtssitz getroffen habe, der hinter Sandsäcken verborgen war“, erzählte der ehemalige Bundesaußenminister gestern Abend bei der Diskussion, die die beiden Staatsmänner im FH-Hörsaalgebäude an der Eupener Straße nach 22 Jahren erneut zusammenführte.

Der Besuch Genschers in Litauen am 12. September 1991 und die offizielle Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwei Wochen zuvor ebneten dem Land den Weg zurück in die europäische Staatengemeinschaft. „Dieser Besuch war ein wichtiges Zeichen für uns“, sagte Prof. Landsbergis, „für uns Litauer war immer klar, dass der Zweite Weltkrieg nicht vorbei ist, solange die baltischen Staaten nicht befreit sind.“ Er dankte der damaligen deutschen Regierung für die praktische und konkrete Unterstützung in den Zeiten des Unabhängigkeitskampfes.

Am 11. März 1990 hatte das litauische Parlament die Unabhängigkeit des Landes für wiederhergestellt erklärt und die bis 1940 geltende Verfassung wieder in Kraft gesetzt. Die Sowjetunion, von inneren Machtkämpfen zwischen Hardlinern und Reformern zerrüttet, versuchte die Abspaltung der baltischen Staaten zu verhindern: Am 13. Januar 1991 besetzten prosowjetische Truppen den Fernsehturm in Vilnius, 14 junge, unbewaffnete Litauer kamen ums Leben. „Es waren dramatische Tage damals“, erinnerte sich Landsbergis. Historische Momente, ohne Zweifel.

Der heute 86-jährige Genscher verwies bei der Diskussion darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland, damals seit wenigen Monaten wieder vereinigt, im Frühjahr 1991 in einer Zwickmühle gesteckt habe: „Der Zwei-plus-Vier-Vertrag war zwar ausgehandelt und unterzeichnet, aber die Ratifizierung der Sowjetunion stand noch aus.“ So habe man in Bonn und in den anderen europäischen Hauptstädten die Entwicklung im Kreml mit großer Anspannung beobachtet. Erst nach der Ratifizierung des Vertrags und der Niederschlagung des reaktionären Putschs gegen Staatschef Michail Gorbatschow im August sei dann der Weg frei gewesen für eine offene Unterstützung des Kampfes der baltischen Staaten.

Der Freiheitswille führte Estland, Lettland und Litauen in den Folgejahren wieder zurück in die europäische Familie: 2004 wurden die drei Staaten in die Europäische Union aufgenommen. Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite wird in diesem Jahr mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen ausgezeichnet, die Diskussion mit den Staatsmännern Landsbergis und Genscher war Teil des Rahmenprogramms der Karlspreisverleihung. Die Veranstaltung wurde gemeinschaftlich organisiert von der FH Aachen, der Karlspreisstiftung, der Stadt Aachen, der Botschaft der Republik Litauen, dem Deutsch-Litauischen Forum und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Ein historischer Moment war die Veranstaltung auch für die zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer, sowohl aus der Hochschule als auch aus der interessierten Öffentlichkeit. Es war bewegend, den Geschichten der beiden Zeitzeugen zu folgen und so einen Einblick in eine Zeit zu gewinnen, die die Welt verändert hat und die voller historischer Momente war. Wer die Wendezeit zwischen 1989 und 1991 – Aufstand der Menschen in Mittel- und Osteuropa, Fall der Mauer, Wiedervereinigung, Zerfall der Sowjetunion, Ende des Kalten Krieges – mit wachem Verstand erlebt hat, für den war es das pure Vergnügen, bei dem Treffen der beiden bestens aufgelegten Staatsmänner dabei zu sein. Aber auch für die zahlreich erschienenen Studierenden, die die Geschehnisse jener Zeit nur aus den Erzählungen ihrer Eltern oder aus Büchern kennen, war es eine Geschichtsstunde der spannendsten Art.