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Eintauchen in neue, alte Welten

Am Fachbereich Gestaltung werden innovative Anwendungen im Bereich der Virtual Reality entwickelt. Sie eröffnen neue Möglichkeiten für die Zusammenarbeit.

Manche Themen sind so groß, dass man gar nicht genug Fragen stellen kann. Wie nehmen wir unsere Umwelt wahr? Wie hängen Wissen und Erkenntnis, Wahrnehmung und Erfahrung zusammen? Wie gestalten wir unser Zusammenleben und das Zusammenarbeiten mit anderen Menschen? Oder, flapsig formuliert: Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?

Willkommen in der Welt der vollkommenen Illusion! Tauchen Sie mit uns ein in eine neue Welt, die unsere alte, eigentliche, wahre und reale Welt um eine Virtual Reality (VR) ergänzt. An der FH Aachen wird an mehreren Stellen zum Thema VR geforscht, wir haben uns einmal am Fachbereich Gestaltung umgesehen.

Im öffentlichen Rampenlicht

Die Idee der Schaffung paralleler Welten ist nicht neu. Die Technologie war jedoch lange zu teuer, die Grafikqualität unzureichend, und die Geräte waren unbequem. Ähnlich wie beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) ist es ein Technologiesprung, der VR jetzt erneut ins öffentliche Rampenlicht rückt. Der amerikanische Apple-Konzern will jetzt auch mitspielen - und mitverdienen. Vision Pro heißt das neue Werkzeug, und wenn man Fachleuten glaubt, bietet es einen deutlichen Mehrwert, den sich der Konzern aber auch gut bezahlen lässt. Die Konkurrenz, der Meta-Konzern, hat mit seiner Quest 3 ebenfalls ein Modell auf den Markt gebracht, das den Traum von der neuen, viel realeren Realität wahr werden lassen soll. Mittlerweile funktionieren VR-Brillen komplett autonom – man benötigt also nicht zusätzlich noch einen Hochleistungs-Gaming-Computer (das war bislang der Fall), sondern die Brillen sind selbst kleine Computer. Im Fall der Apple Vision Pro gehört auch ein eigenständiges Betriebssystem dazu, das auf die anderen Hard- und Softwareprodukte des Konzerns abgestimmt ist. Die Lokalisierung der "Controller" funktioniert bei der neuen Headset-Generation über die in den Brillen verbauten Außenkameras und Lidar-Sensoren.

Überzeugende Illusionen

Letzten Endes handelt es sich bei der VR-Hardware in erster Linie um eine Schnittstelle – also um eine Verbindung der realen Welt (unser Wahrnehmungssystem, vor allem das Sehen, sowie unsere Bewegungen) mit virtuellen Entitäten (Räumen, Gegenständen, virtuellen Figuren). Normalerweise sind diese Schnittstellen wie etwa Handybildschirme klar als solche erkennbar. Anders bei den neuen VR-Brillen: Sie erzeugen sehr überzeugende Illusionen bei den Nutzer:innen und transformieren bestehende oder in einer immersiven Software erstellte Daten in eine erweiterte Realität und machen diese so erlebbar und auch bewertbar.

Einsatz im Studienalltag

Springen wir also hinein in diese neue Welt. Wir sitzen in einem Raum des Fachbereichs Gestaltung. Wolfgang Gauss ist seit 2008 als Lehrbeauftragter am Fachbereich tätig, seit 2015 ist er Professor. Er vertritt das Lehrgebiet Interaktive Gestaltung, Schwerpunkt Interface Design. Mit den Studierenden entwickelt er nicht nur Anwendungen für die Technologie, er setzt sie auch im Studienalltag ein. Dabei nutzt der Fachbereich eine App mit den Namen "Raum", die im Unternehmen von Michael Gairing entwickelt worden ist – auch er ist bei der Präsentation dabei, um die Möglichkeiten des Systems zu demonstrieren.

Auf das Geschehen in der virtuellen Welt fokussiert

Die virtuelle Welt wird dabei zum Begegnungsraum. Denkbar ist etwa der Einsatz in Teams bei der Entwicklung eines neuen Projekts – an der einen (virtuellen) Wand hängen unterschiedliche Entwürfe, an der nächsten eine Liste mit den To-Dos. Die Teilnehmenden können sich über ihre Avatare (also sozusagen ihre VR-Figuren) zu kleinen Gruppen zusammenfinden und diskutieren. Solche virtuellen Zusammenkünfte können ungleich produktiver sein als Videokonferenzen, bei denen jeder Teilnehmende nur eine Kachel auf einem Bildschirm ist. "Durch die immersive Darstellung arbeiten die Studierenden intensiv mit, weil sie auf das Geschehen in der virtuellen Welt fokussiert sind", sagt Wolfgang Gauss.

Vision für eine neue Form der Präsenzhochschule

Für die Hochschule stellt sich derzeit die Aufgabe, eine Vision für eine neue Form der Präsenzhochschule zu entwickeln. Es geht darum, den realen, menschlichen Kontakt zu ergänzen um Möglichkeiten, die sich nur in der digitalen Welt bieten. "Ich bin überzeugt, dass wir mit VR und der Immersion ganz neue, kreative Formen der Zusammenarbeit finden können", sagt Professor Gauss. Die Technologie sorge nicht zuletzt für soziale Interaktion, für neue Möglichkeiten des gemeinsamen Arbeitens. Das Prinzip lässt sich beispielweise auch auf Schulungen übertragen. Wie kann man im Team eine Maschine oder Computerhardware auseinander- und wieder zusammenbauen? Wie läuft ein Eingriff im Krankenhaus-OP ab? Wie baut man einen Kleiderschrank auf, wenn man es mit fünf verschiedenen Sorten Schrauben zu tun hat? Wie groß muss die Spüle in der Küche sein, um ergonomisch arbeiten zu können? Mit VR eröffnen sich neue Möglichkeiten.

Ausbildung im Design wird sich dramatisch ändern

Neben dem Einsatz als Werkzeug in der Lehre geht es ihm vor allem darum, die Studierenden bestmöglich auf das Berufsleben vorzubereiten. Sie sollen nicht nur im Umgang mit der Technologie vertraut sein, sondern auch virtuelle Umgebungen und die damit verbundenen Interaktionen gestalten können. An dieser Stelle kommt auch Kollege Prof. Manfred Wagner ins Spiel. Er ist Professor für Produkt- und Interiordesign am Fachbereich und hat mit seinen 64 Jahren schon viel erlebt. Er verfügt über ein großes Maß an Erfahrung in der Industrie, hat mit großen Konzernen zusammengearbeitet. Und – auch wenn es sich gar nicht um sein eigentliches Lehrgebiet handelt – er ist begeistert von den neuen Möglichkeiten, die sich derzeit im Bereich VR auftun. "Das stellt eine große Herausforderung für uns dar", sagt er, "die Ausbildung im Design wird sich dramatisch ändern". Zum einen kämen die neuen Formen der virtuellen Zusammenarbeit natürlich auch beim Kontakt mit Kund:innen zum Einsatz, etwa bei Meetings, Präsentationen und Schulungen. Zum anderen verspricht die Technologie Effizienzgewinne in der Produktentwicklung. Professor Wagner hat gemeinsam mit seinen Kolleg:innen beim Skycab-Projekt den Nachweis erbracht, wie viel Potenzial der Ansatz bietet. "Wir haben nur ein Drittel der Ressourcen benötigt, weil wir das Produkt und seine gesamte Peripherie im virtuellen Raum mit der Software Gravity Sketch entwickelt haben", sagt er. Unter anderem wurden bei den Engineering-Kolleg:innen die virtuell erzeugten Daten über das System CATIA (Computer-Aided Three-Dimensional Interactive Application) an eine reale Produktionsumgebung zurückgespielt. Am Ende stand der Design-Prototyp des Flugtaxis auf Messen und Konferenzen – und zog viele neugierige Blicke auf sich. Mehr zu den Projekten lesen Sie am Ende des Artikels.

 

Design-Technik-Konvergenz

In der engen Kooperation von Gestalter:innen und Ingenieur:innen sehen Gauss und Wagner große Entwicklungsmöglichkeiten – das Stichwort lautet Design-Technik-Konvergenz. "Der größte Teil der Arbeit von Designer:innen ist es zu verstehen, was die Nutzenden wollen", betont Wolfgang Gauss. Über das Eintauchen in digitale Welten sei es einfacher möglich, neue Produkte maßgeschneidert zu entwickeln. Ein Beispiel ist etwa die Innenraumgestaltung von Autos. Da geht es um die Sitzposition, die Anordnung von Displays und Schaltern, um das Interaktionsdesign mit den Infotainment-Systemen und nicht zuletzt um Blickwinkel und Raumgefühl. "Wir wollen eine hohe emotionale und ästhetische Qualität erreichen", bekräftigt Manfred Wagner, "es ist die große Challenge, einen Wohlfühlraum im Kontext der technisch erforderlichen Parameter zu schaffen", virtuell und real.

Wie in einem Science-Fiction-Film

Wie aber fühlt sich das in der Praxis an? Im Labor von Wolfgang Gauss am Boxgraben können wir es ausprobieren. Die VR-Brille erinnert vom Tragekomfort an eine Skibrille, gerade für Brillenträger:innen ist sie … nun, sagen wir: halbbequem. Wolfgang Gauss drückt mir zwei Controller in die Hände. Sie erlauben es mir, mich in den virtuellen Räumen fortzubewegen. Man kann sich wie in einem Science-Fiction-Film teleportieren: Ich stelle quasi meine virtuellen Füße dorthin, wo ich hingehen möchte, drücke einen Knopf, und ab geht die Post. Mit den Controllern kann man Gegenstände greifen und Schalter betätigen. Nach einer kurzen Eingewöhnung funktioniert die Illusion wunderbar. Innerhalb der VR-Welt kann man sich nur dann miteinander unterhalten, wenn man nah beieinandersteht (wie in der realen Welt). Das unterstützt noch einmal mehr, diese Illusion zu erschaffen.

Lehre, Forschung, Berufspraxis

Wolfgang Gauss fasst sein Ziel zusammen: "Unsere Lehrprogrammatik ist, aus dem Kontext der enormen technologischen Entwicklungen unserer Zeit heraus Antworten auf die Fragen zu finden, wie wir künftig kollaborativ erfolgreiche Kommunikationsprodukte entwickeln können." Dabei gehe es besonders um Benutzeroberflächen und auch physische Produkte. Beim Einsatz von VR gibt es noch einige Herausforderungen zu bewältigen. Die Endgeräte sind teuer, zudem stellen die Systeme hohe Anforderungen an Rechenleistung und Datenbandbreite. Auch ethische und rechtliche Aspekte müssen noch geklärt werden. Aber Gauss und Wagner sind von der Eignung der Technologie in Lehre, Forschung und Berufspraxis überzeugt: "Es geht darum, mehr als eine Vision zu haben. Da sind wir und werden an den kommenden Entwicklungen teilhaben und diese im Forschungskontext weiter voranbringen." Sie verweisen darauf, dass der Fachbereich Gestaltung führend ist, wenn es darum geht, Studierende in diesem Bereich auszubilden.

Werbung für die Studiengänge

Und die VR-Technologie hat noch einen Vorteil – sie kann quasi für sich selbst Werbung machen. "Wir wollen die Semesterausstellung am Fachbereich zukünftig auch mit VR nutzbar machen", betonen die beiden Professoren, auch ein Einsatz beim Hochschulinformationstag sei denkbar, um für die Studiengänge zu werben. Auf diese Weise könne man auch Interessiere erreichen, die gar nicht vor Ort sind.

TWIKE (Jan Niehues / FH Aachen)

Twike war ein Bachelorprojekt von Jan Niehues, das gemeinsam voms Fachbereich Luft- und Raumfahrttechnik, Prof. Dr. Thilo Röth, und Prof. Manfred Wagner mit der Marke Twike entwickelt wurde. Hier wurde erstmalig am Fachbereich Gestaltung eine komplette Produktentwicklung in VR durchgeführt. Die Datensätze der technischen Baugruppen des Engineerings wurden konvertiert und für den Entwurfs- und Modellierungsprozess im Design in Gravity Sketch integriert. Der Zeitaufwand im Designprozess im Gegensatz zur klassischen CAD-Methodik konnte auf ein Drittel reduziert werden. Ein direkter Austausch konnte direkt immersiv im VR gemeinsam mit den Ingenieur:innen erfolgen - eine echte Konvergenz zwischen Design und Technik auch in der Datenrückführung hin zu CATIA war problemlos möglich. Die hier generierte Datenbasis konnte weiterhin auch als Basis für CGI und Animation sowie für den 3D-Druck des Design-Mock-ups genutzt werden.

SKYCAB (Braunwagner / FH Aachen)

Skycab war ein Forschungsprojekt in einem großen Konsortium aus verschiedenen Fachbereichen der FH Aachen und Wirtschafts- und Industrieunternehmen aus der Region Aachen. Für die Antragsskizze entwickelte Prof. Manfred Wagner mit den Studierenden des Produktdesigns Konzepte für ein Mobility Design im Bereich Aviation. Der Antrag  führte zu der Entwicklung eines intermodalen Mobilitätskonzeptes für die Pilotregion NRW/Rhein-Maas Euregio. Prof. Dr. Carsten Braun, Lehr- und Forschungsgebiet Luftfahrzeugtechnik, leitete das Projekt gemeinsam mit Prof. Dr. Thilo Röth, Lehr- und Forschungsgebiet Karosserietechnik. Die weitere Designentwicklung im Forschungskontext wurde von der Agentur Braunwagner durchgeführt. Das gesamte Design mit allen technischen Parametern wurde in VR mit Gravity Sketch generiert, hier wurde ein digitalen Zwilling generiert, den alle technischen Konsortialpartner nutzen konnten.

WING MOTION (Gabriel Karadag / FH Aachen)

Wing Motion war ein Semester Projekt von Gabriel Karadag (Student Produktdesign), begleitet von Prof. Wagner und Jan Niehues. In dem Projekt wurde der Austausch zwischen Gravity Sketch und der Animationssoftware Blender getestet. Die Zusammenführung der in Blender generierten Bewegungsmechaniken und der im virtuellen Raum erfassten Ergonomie Daten ermöglichten einen neuen Gestaltungsprozess.

FIXXR (Jacob Erler / FH Aachen)

FIXXR war ein Semesterprojekt von Jacob Erler (Bachelorstudent Kommunikationsdesign), begleitet von Prof. Wolfgang Gauss. FIXXR ist eine Plattform, die Augmented Reality in den Bereich der Gerätereparatur und -modifikation integriert. Sie richtet sich an die Zielgruppe von technikinteressierten Heimwerker:innen und bietet interaktive, anpassbare Anleitungen, die durch AR-gestützte Visualisierungen unterstützt werden. Ziel ist es, Reparaturen und technische Modifikationen zu erleichtern und den Lernprozess durch visuelle Hilfsmittel und klare Schritt-für-Schritt-Anweisungen zu unterstützen. Die Plattform verfügt über eine benutzerfreundliche Oberfläche, die sich an die Vorkenntnisse der Nutzer anpasst, um eine individuelle Lernerfahrung zu ermöglichen. Neben der Steigerung technischer Fähigkeiten fördert FIXXR kreatives Problemlösen und bietet eine effiziente Möglichkeit, elektronische Geräte nachhaltig zu reparieren oder anzupassen.

CMF-Concept-Generator (Bolin Sun / FH Aachen / Studiengang MA-Design)

Hierbei handelt es sich um eine Desktop-Applikation, die auf Basis von einer KI-Agenten-basierenden Implementierung einer sogenannten RAG (Retrieval-Augmented Generation)-Systemarchitektur zur Erstellung von Color-Material-Finish-Designlösungen (CMF) für das Gestalten des Interieur-Designs von Fahrzeuginnenräumen genutzt werden kann.
Interieur-Designer:innen können auf Basis von am Desktop-Computer eingegebenen Attributen und Parametern CMF-Designlösungen Schritt für Schritt kollaborativ und iterativ entwickeln und diese in einer VR-Umgebung in HDR-Qualität anschließend besprechen, anpassen und natürlich bewerten und weiterbearbeiten. Die Desktop-Applikation wird für das Entwicklen der Designlösung genutzt und die VR-Umgebung zur immersiven Darstellung und Weiterbearbeitung.