Oliver Schulz
„Als Manager verkaufe ich Ideen.“
Oliver Schulz ist ein Weltbürger. Als Kind lebte er mit seinen Eltern, die im diplomatischen Dienst sind, und seinem Bruder in Äthiopien, Türkei, Österreich und auf den Philippinen, wo er an einer internationalen Schule das Abitur machte. Für sein BWL-Studium zog er für einige nach Aachen, um nach dem Studium als Mitarbeiter der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ zahlreiche internationale Hilfsprojekte zu leiten. Seit 2018 leitet er die Schwedische Sektion der Organisation von Stockholm aus.
Sie sind viel herumgekommen, haben in den Hauptstädten und Metropolen zahlreicher Länder gelebt. Wie hat es Sie nach Aachen verschlagen?
Ich muss gestehen, Aachen war eine eher pragmatische Wahl. Mein großer Bruder hat Elektrotechnik an der RTWH Aachen studiert, und meine Eltern wollten, dass wir gemeinsam an einem Ort studieren, damit er mich ein bisschen unterstützen kann.
Ich wusste damals schon, dass die Ingenieurwissenschaften nichts für mich sind. Also habe ich mich in Richtung BWL umgeschaut. Da mir die Uni zu groß und zu unpersönlich war, habe ich mich für ein Studium an der FH Aachen entschieden. Und ich kann sagen: Das war für mich genau richtig für mich.
Was ist Ihnen aus dem Studium besonders in Erinnerung geblieben?
Vor allem die Praxisorientierung, die mochte ich sehr. Und dann das Engagement der Lehrenden. Wir waren damals zum Beispiel mit Prof. Pietschmann eine Woche in einem Kloster und haben dort über Management und Selbstmanagement reflektiert. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das unbedingt zum Lehrplan gehörte oder einfach ein zusätzliches Angebot war. Jedenfalls hätte ich ohne diese Woche viel länger gebraucht um zu erkennen, was meine Stärken sind und was ich mit ihnen machen möchte. Ich habe später noch einige Leadership-Seminare besucht, aber diese Woche im Kloster war mit das Beste, was ich in dem Bereich je mitgemacht habe.
Als General Manager haben Sie die Verantwortung für zahlreiche Menschen und für viel Geld. Was bedeutet Leadership – Führung – für Sie?
Für mich bedeutet Leadership erst einmal, dass ich reflektiere, wer ich bin und wie ich andere inspirieren kann. Es bedeutet, sich in den Dienst des Teams und der Sache zu stellen und im Blick zu haben, was gerade gefragt ist – und was nicht. Und, wenn nötig, muss man auch mal einen Schritt zurückzutreten. Leadership bedeutet für mich vor allem auch, kontinuierlich zu lernen und zu wachsen. Man übernimmt Verantwortung und steht für das gerade, was man entscheidet was man macht. Es ist ein ständiges Abwägen zwischen den Herausforderungen, die man annimmt und denen, die man besser nicht annimmt.
War es schon während des Studiums Ihr Wunsch, in einer NGO zu arbeiten?
Nicht unbedingt. Während dem Studium habe ich viel gearbeitet, weil es mir so viel Spaß gemacht hat. Das ist ja auch etwas Tolles am Studium. Man kann sich und viele verschiedene Jobs ausprobieren. Damals gründeten sich in Aachen gerade viele junge IT-Startups, und die suchten studentische Arbeitskräfte. Das war klasse! Das waren alles junge Leute, alle auch in den 20ern und voller Ideen. Da herrschte ein toller Gründer-Spirit, eine sehr schöne Arbeitsatmosphäre. Ich konnte mich da als studentische Hilfskraft austoben und in vielen Bereichen Erfahrungen sammeln.
Nach dem Studium habe ich mich bei einigen Unternehmen beworben, kam dort auch immer in die letzte Runde – aber es hat bei mir nie geprickelt. Also überlegte ich, ob ich auch in den Diplomatischen Dienst gehen solle? Aber nein, das ist zu viel Bürokratie für mich. (lacht)
Bei meinen Recherchen kam ich dann auf Ärzte ohne Grenzen. Und ich hatte Glück, denn die Organisation war damals gerade dabei, sich global aufzustellen und zu wachsen. Für mich war es genau der richtige Zeitpunkt, um meine Erfahrungen und mein Know-how aus dem Studium sofort anzuwenden, weil Allrounder und Praktiker gefragt waren.
Seit 2004 sind Sie für Ärzte ohne Grenzen tätig. Wie war Ihr Weg bis zu Ihrer jetzigen Position als General Manager?
Es war ein langer Weg, den ich aber ganz bewusst so gewählt habe. Ich kam von der Hochschule, hatte ein paar Erfahrungen. Aber was bedeutet Management im Krisengebiet? Wie geht Risikomanagement? Was bedeutet es, verantwortlich für das Leben und die Sicherheit von Kollegen zu sein? Das war zwar sehr reizvoll, aber darauf war ich nicht vorbereitet.
Also habe ich mich nicht direkt auf eine Stelle im mittleren Management beworben, sondern ich begann als Logistik-Administrator in der Demokratischen Republik Kongo. Dort war ich für alle Belange zuständig, die mit den Fahren und der Fracht zu tun hatten: Ich teilte die Fahrer ein, kümmerte mich um die Lohnzahlungen et cetera. Und ich verwaltete die Waren, was nicht trivial ist. So erhalten wir beispielsweise Nahrungsmittel für unterernährte Kinder von anderen Organisationen wie UNICEF, die ein strenges Reporting verlangen, was mit den Produkten passiert. Das sind riesige Mengen, die ich managen und verteilen musste. Das war sehr spannend, und ich habe die Organisation von der Pike auf kennengelernt.
Wie ging es weiter?
In den folgenden Jahren war ich in verschiedenen Ländern im Einsatz, und habe dort unterschiedliche Aufgaben übernommen. Von 2006 bis 2007, noch vor dem großen Erdbeben, war ich zum Beispiel in Haiti als Financial Coordinator Teil des Country Management Teams. In der Zentralafrikanischen Republik habe ich als Projektkoordinator ein Projekt in einem Krankenhaus geleitet. Dort haben wir viele Tuberkulosepatienten, auch mit HIV/Aids Co-Infektionen, sowie Chirurgie oder Pädiatrie Patienten behandelt. Und dadurch, dass es Unruhe in den umliegenden Dörfern gab, hatten wir auch häufig mit der Versorgung von Schuss- und Stichverletzungen zu tun. Dort lebten und arbeiteten wir direkt mit der Bevölkerung unter sehr einfachen Bedingungen, aber sehr effektiv.
Was muss man beachten, wenn die Finanzierung vor allem über Spenden läuft?
Letztendlich basiert bei uns alles auf Vertrauen. Wir und unsere Prozesse werden zwar natürlich umfassend auditiert, aber im Grunde geht es um Vertrauen. Diejenigen, die spenden, möchten wissen, wo ihr Geld hinfließt und wie wir es verwenden. Wenn wir dann in einem Land sind, ist es im Grunde eine normale Budgetplanung, aber ich gehe eben mit einem großen Verantwortungsbewusstsein an die Sache heran.
Was gehört neben dem Management noch zu Ihren Aufgaben?
Diplomatie. Bevor wir ein neues Projekt in einem Land beginnen, müssen oft erst mal die Gegebenheiten geklärt werden, ob und unter welchen Umständen wir dort überhaupt arbeiten können. Da führe ich dann viele Gespräche und Verhandlungen mit dem Gesundheitsministerium, mit dem Prime Minister und mit verschiedenen Gruppierungen, um die Berechtigungen zu erhalten.
Sie machen in Krisengebieten den Weg frei für die Ärztinnen und Ärzte?
Genau. Im Studium habe ich viel über Marketing gelernt, in meinen Jobs viel übers Verkaufen. Als Manager verkaufe ich auch. Ich verkaufe Ideen. Selbst wenn ich in der Demokratischen Republik Kongo mit bewaffneten Gruppierungen verhandle, verkaufe ich. Ich verkaufe ihnen unsere Prinzipien und unser Konzept des humanitären Raums, damit wir dort arbeiten können. Ich trage unser T-Shirt, mit unserem Logo, und erkläre ihnen wofür es steht, damit wir medizinisch-humanitäre Arbeit leisten können. Respekt für diesen „humanitarian space“ bedeutet, unsere Arbeit machen zu können ohne angegriffen zu werden und dass alle Waffen oder Uniformen aus dem Lazarett oder dem Krankenhaus bleiben. Das ist nicht selbstverständlich, und es ist letztendlich ein Verkaufsgespräch um die Menschen gegenüber zu überzeugen. Da hat das BWL-Studium sehr geholfen.
Seit 2018 sind Sie General Manager der Sektion Schweden. Was macht man denn in Schweden, einem nicht-Krisenland?
Hier ist es mehr Rekrutierung, Personalmanagement für unsere Mitarbeiter, die in die Projekte gehen, Fundraising, Kommunikation. Schweden als Land und Regierung ist sehr involviert in die Arbeit der UN, das heißt für uns viel Lobbyarbeit gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt von Schweden. Die Arbeit ist anders als in den Einsatzländern, aber auch sehr interessant. Nach wie vor sehe ich den Bezug zu den Patienten und der medizinischen und humanitären Arbeit. Kürzlich haben wir die neue Strategie für 2022 bis 2025 fertiggestellt, das war ein Riesenprojekt.
Wie erarbeitet man eine Strategie und macht eine Budgetplanung für eine Organisation, die jederzeit bereit sein muss, auf unangekündigte Krisen zu reagieren?
Das ist in der Tat interessant. Als Organisation haben wir nicht einen einzigen Hauptsitz, und demnach auch nicht nur eine Strategie. Ärzte ohne Grenzen hat fünf operationale Zentren, die alle in Europa liegen – leider, muss ich an der Stelle hinzufügen. Das ist historisch so gewachsen, aber wir sind gerade dabei, das zu diversifizieren und unsere Hauptquartiere und Strategie globaler zu verteilen.
Auch bei der Strategieentwicklung hat mir das Studium sehr geholfen. Als ich vor drei Jahren hier anfing, gab es wenig Kooperation zwischen den Abteilungen und Disziplinen. Also haben wir geschaut, wofür stehen wir gemeinsam in Schweden? Was ist unser gemeinsames Ziel, was eint uns? Das war sehr spannend, denn diese Herangehensweise war total neu. Viele haben gesagt: Warum schreiben wir nicht einfach, was wir machen wollen und gut ist? Statt den einfachen, gewohnten Weg zu gehen, haben wir haben drei Säulen für unsere Arbeit definiert, und überprüfen unsere Aktivitäten dahingehend, inwiefern sie diese Säulen unterstützen. Dieser Strategieprozess ging mit einem die Change Prozess einher, weil viele eher nur ihre Arbeit, ihre Abteilung im Blick hatten. Diesen Blickwinkel haben wir gedreht, denn nun geht es darum, wie jede und jeder einzelne zum Erreichen der Ziele der Organisation beitragen können.
Zum Abschluss bitte ein Blick in die Glaskugel: Welche Themen werden uns 2022 beschäftigen?
Nicht überraschend, aber Corona wird in diesem Jahr und wahrscheinlich noch länger ein Thema bleiben. Und eventuell andere, ebenfalls wichtige Themen, überschatten. Ich gehe davon aus, dass es in diesem Jahr vor allem darum gehen wird dafür zu sorgen, dass Impfstoffe überall auf der Welt verfügbar werden. Impfen wird das zentrale Thema sein. Ich denke, es macht wenig Sinn, heutzutage Grenzen zu schließen, stattdessen sollte man impfen. Denn je mehr Menschen geimpft sind, desto weniger Mutationen wird es eventuell geben. Doch es wird auch andere Themen geben. Wir versuchen immer, auch die Themen ans Licht zu bringen, die es nicht in die Medien schaffen. Viele denken leider immer an Afrika, wenn es um humanitäre Not geht. Doch auch in Süd- und Zentralamerika ist die Situation prekär. Auch dort gibt es gewaltige Migrationsströme Richtung Norden, und da herrscht große Not. Dort haben wir ebenfalls Projekte, und es werden immer mehr. Dies schließt natürlich Krisengebiete wie Afghanistan, Yemen oder Syrien nicht aus und es wird auch im kommenden Jahr viel zu tun geben, sicherlich auch derzeit mit einem Blick in die Ukraine, wo wir auch Projekte haben.
Datum: Februar 2022